Grauenvolle Schreiborte

Wie wird Schreiben zum Abenteuer? Darüber dachte Lucia nach und kommt an erster Stelle auf die Idee, einen unwirtlichen Ort zu wählen: „wo du dich nicht wohlfühlst und nur unter Grauen hingehst. Genau da werden existentielle Texte entstehen.“

Ich bin ja noch immer bei der Angst, existentielle Texte wollen wir doch. Deshalb: Was sind die grauenvollsten Schreiborte, die wir uns vorstellen können? Wo und bei welchem Ambiente bin ich in der Lage, die existentiellsten Texte zu schreiben? Fünf erste Ideen:

– im lieblos kargen Speisesaal im Keller eines Gästehauses, am besten wenn ich Zeitdruck habe, bis der Text fertig sein muss, und um mich herum Menschen kichernd und quatschend Sahnetorte essen, mir aber Filterkaffee nicht schmeckt

– auf einem Schiff, das durch den Nebel rauscht, zwischen einer Ausflugsgruppe schwäbischer Freundinnen und einer Grundschulklasse, die mit einer Lehrerin gesegnet ist, die die Kinder rücksichtsvoll anhält, leise zu sein

– in der mittlerweile rauchfreien Kneipe, in der wir uns zum ersten Mal geküsst haben, mit dem Stift, den er mir geschenkt hat und mit dem ich die Hochzeitseinladungen unterschrieben habe, auf rosa Papier, am Tag der Trennung

-in einer grauen, kalten Bruchbude in einer mir fremden Umgebung, zwischen Müllsäcken, Modergeruch und Tieren, die ich nicht benennen kann, wenn ich nicht weiß, ob noch andere Menschen in der Nähe sind und, wenn ja, was für welche

– in einem langen Amtsflur zwischen Horden von Gleichstellungsbeauftragten, frustrierten Alt-68ern und weißhaarigen Bürokraten, hinten auf das Zettelchen mit der Nummer 374

Es geht noch mehr …

Im Schreiben zu Haus

Zufällig wohl nur für eine, die sich mit Fotografie und Fotografinnen nicht auskennt, habe ich eine großartige Entdeckung gemacht: Der Bildband: „Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen“ von Herlinde Koelbl. 42 Porträts deutschsprachiger Schriftsteller von Peter Handke bis Ernst Jünger, von Sarah Kirsch bis Christa Wolf sind in diesem wunderschönen Buch versammelt. Herlinde Koelbl fotografierte und sprach mit den Porträtierten zwischen 1996 und 1998, das Buch erschien im September 1998 und ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Die Fotografien der Arbeitszimmer, Schreibtische, Hände an der Schreibmaschine, am Laptop oder mit Stift überm Papier stillen die Neugier und geben sinnliche Eindrücke in die Praxis des Schreibens. Gespräche, in denen Herlinde Koelbl ungeniert, aber gut informiert Fragen stellt, zeigen Lust und Qual des Schreibens. Wann schreiben Sie, wo schreiben Sie, fällt Ihnen das Schreiben leicht, wie gehen Sie beim Schreiben vor? – Solche ganz praktischen Fragen laden ein, die eigene Schreibpraxis zu reflektieren und bewusst zu gestalten. Doch am meisten Spaß macht es, bei einem Glas Wein in diesem dicken Buch zu schmökern und dabei das Gefühl zu haben, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen ganz privat kennen zu lernen, Ihnen über die Schulter und auch ein wenig in die Seele zu schauen.