Grauenvolle Schreiborte

Wie wird Schreiben zum Abenteuer? Darüber dachte Lucia nach und kommt an erster Stelle auf die Idee, einen unwirtlichen Ort zu wählen: „wo du dich nicht wohlfühlst und nur unter Grauen hingehst. Genau da werden existentielle Texte entstehen.“

Ich bin ja noch immer bei der Angst, existentielle Texte wollen wir doch. Deshalb: Was sind die grauenvollsten Schreiborte, die wir uns vorstellen können? Wo und bei welchem Ambiente bin ich in der Lage, die existentiellsten Texte zu schreiben? Fünf erste Ideen:

– im lieblos kargen Speisesaal im Keller eines Gästehauses, am besten wenn ich Zeitdruck habe, bis der Text fertig sein muss, und um mich herum Menschen kichernd und quatschend Sahnetorte essen, mir aber Filterkaffee nicht schmeckt

– auf einem Schiff, das durch den Nebel rauscht, zwischen einer Ausflugsgruppe schwäbischer Freundinnen und einer Grundschulklasse, die mit einer Lehrerin gesegnet ist, die die Kinder rücksichtsvoll anhält, leise zu sein

– in der mittlerweile rauchfreien Kneipe, in der wir uns zum ersten Mal geküsst haben, mit dem Stift, den er mir geschenkt hat und mit dem ich die Hochzeitseinladungen unterschrieben habe, auf rosa Papier, am Tag der Trennung

-in einer grauen, kalten Bruchbude in einer mir fremden Umgebung, zwischen Müllsäcken, Modergeruch und Tieren, die ich nicht benennen kann, wenn ich nicht weiß, ob noch andere Menschen in der Nähe sind und, wenn ja, was für welche

– in einem langen Amtsflur zwischen Horden von Gleichstellungsbeauftragten, frustrierten Alt-68ern und weißhaarigen Bürokraten, hinten auf das Zettelchen mit der Nummer 374

Es geht noch mehr …

Leichter im Text – ein Buchtipp

Das Buch ist weder neu (erschienen im August 2001), noch angesagt in der Schreibszene oder im auf solche Art Bücher spezialisierten Autorenhaus-Verlag erschienen. Doch es begleitet mich sehr zuverlässig durch mein Schreiberinnen-Leben, gerade habe ich es wieder hervorgeholt:

Leichter im Text. Ein Schreibtraining von dem Schweizer Ehepaar Christa und Emil Zopfi ist aus der Praxis von Schreibseminaren entwickelt worden. Man kann damit alleine im stillen Kämmerlein seine Schreibkompetenz weiter entwickeln, viele Anregungen lassen sich aber auch in Schreibgruppen oder -seminaren verwenden. Es deckt von „aufbrechen“ und „fließen“ über „spielen“, „formen“, „dichten“, „erzählen“, … bis zu „bearbeiten“ und „ankommen“ ein riesiges Spektrum von Schreiben ab. Man kann es von vorne nach hinten durcharbeiten, irgendwo aufschlagen und zehn Minuten zum Fund schreiben oder es immer wieder hervorziehen und damit spielen. Jedes Kapitel enthält eine Einführung, Hintergundtexte, Übungen und Beispieltexte, alles ist ansprechend illustriert und gestaltet.

Leichter im Text ist kein Training im Sinne von anstrengenden Übungen. Es ist ein Buch, das dazu ermuntert, den Stift in die Hand zu nehmen oder sich an die Tastatur zu setzen. Es macht Lust zu schreiben, zu experimentieren, das eigene Schreiben und die Welt des Geschriebenen zu erforschen. Denn Schreiben lohnt sich. Und es macht Spaß.

Treppen führen zu Absturzgefahr

Im Schreibt!-Raum 11 habe ich ja vorgeschlagen, Treppengedichte zu schreiben. Um dann selbst festzustellen, dass 1. das Anschläge zählen mühsam ist und den Schreibfluss nicht unbedingt begünstigt und dass 2. die Form den Inhalt sehr beeinflusst.
Nun habe ich eine Mail bekommen von einer, die ’s ausprobiert hat. Auch Ihr kam wohl vor allem „abgründiges, abstürzendes in den Sinn“. Da frage ich mich: Warum geht es eher treppab als treppauf? Sollte man generell Treppen lieber meiden oder liegt es daran, dass wir von oben nach unten lesen? Vielleicht haben Treppen einfach immer eine immense Stolpergefahr, egal in welcher Richtung man sie begeht, auch wenn sie komplett normgerecht gebaut sind.
Ob es sich lohnt, einmal ein Treppengedicht von unten nach oben zu schreiben, also mit der langen Zeile anzufangen und zu sehen, auf welches einzelne Wort der Text dann am Ende zuläuft? Denn Aufstieg ist immer besser als Abstieg und Schreiben speziell soll doch positive Effekte auf allerlei haben. Hat es gewöhnlich auch.

Bis ich dies in Ruhe erforscht habe, habe ich mich noch einmal an einem Bulldozer-Gedicht versucht. Und als nächstes zähle ich mal wieder Silben statt Anschläge und sage: Siebzehn Silben für ein Haikuluja.

Schreibt!-Raum 11: Treppengedichte

Das Bulldozer-Gedicht zu entwickeln hat Spaß gemacht und wurde schon von Lucia (und auch von anderen?) aufgegriffen. Und da der Druck, dringend etwas schreiben zu müssen Kreativität freisetzt, habe ich mir heute noch eine weitere Gedichtform ausgedacht: das Treppengedicht.

Treppen kann man in zwei Richtungen gehen, nach oben oder nach unten. Je nachdem ob der Treppentext links- oder rechtsbündig geschrieben ist, wird die eine oder andere Richtung betont, möglich bleiben immer beide. Deshalb kann auch das Treppengedicht in zwei Richtungen gelesen werden.
Damit eine Treppe gut zu begehen ist, müssen die Stufen gleichmäßig sein. Dazu gibt es Normwerte, die zwar Normmenschen nicht kennen, aber jeder spürt es sofort, wenn sie nicht eingehalten wurden. Beim Treppengedicht ist die Treppensteigung durch die Schriftgröße und den Zeilenabstand festgelegt und bleibt immer gleich (wenn man nicht zwischendrin die Formatierung wechselt). Die Treppentiefe, also wieviel Platz der Fuß zum Draufsteigen hat, hängt von der Zeichenanzahl ab – und natürlich davon, wie breite Zeichen, außer man verwendet eine nicht-proportionale Schrift wie Courier; das vernachlässige ich im Weiteren.

Wer baut eine Treppe mit möglichst gleich breiten Stufen? Erster Schritt: die Schritttiefe = Zeilenlänge festlegen. Bei echten Treppen 23 – 37 cm, im Treppengedicht 5 – 10 Zeichen (Leerzeichen zählen natürlich mit). Zweiter Schritt: Stufenanzahl festlegen. Nach spätestens 18 Stufen braucht eine Treppe ein Podest, also 5 – 18 Zeilen. Und nun die Zeilen so mit Wörtern füllen, dass die nächste Zeile immer um die festgelegte Zeichenzahl länger ist. Und vor allem, dass die Treppe sinnvoll in beide Richtungen begangen werden kann und sich sowohl Auf- als auch Abstieg lohnen.

Alles klar? Mit meiner Lieblingszahl sieben sieht das ganze dann so aus:

XXXX XX
XXX XXXXX XXXX
XXXXXXX XXXXX XXXX XX
XXXXXX XXXX XXXXX XXXXXX XXX
XXXXXXXX XXXXX XXXXXXX XXXXXXXX XXX
XXXX XXXXX XXX XXXXXXXX XXXX XXXXX XXXX XX
XX XXXXX XXXX XXXXXXX XXXX XXXXX XXXXXX XXXXX XXX

Und jetzt mit richtigen Wörtern!

Schreib!-Raum 10: Bulldozer-Gedicht

Mit einer Freundin kam ich in den Ferientagen auf die Idee, eine eigene Gedichtform zu kreieren, statt immer nur Elfchen, Zevenaare und Co. von anderen zu schreiben. Spontan entstand der Bauplan für ein Bulldozer-Gedicht. Vielleicht lässt sich mit dieser Form was anfangen. Wer probiert es aus?

Das Zentrale am Bulldozer-Gedicht ist das Bulldozer-Wort. Dies kann ein richtiges Wort oder auch ein Lautwort sein und steht rechtsbündig in der vierten Zeile. Zeile 1 bis 3 antworten auf die Fragen 1. Wo?, 2. Was? und 3. Wer? In Zeile fünf bis sieben werden die ersten drei Zeilen wiederholt, eventuell wird das ganze in eine andere Zeitform gesetzt.

Als Beispiel zwei Versuche, die noch Ende des letzten Jahres im Zug entstanden. Und dann bin ich gespannt auf andere Bulldozer-Gedichte.

Bulldozer-Beispiele