Wislawa Szymborska über das Dichten

Die polnische Dichterin Wislawa Szymborska habe ich – trotz Nobelpreis für Literatur 1996 – erst nach ihrem Tod im Februar diesen Jahres kennengelernt. Sofort sprachen mich ihre Gedichte sehr an. Schade nur, dass ich kein Polnisch kann und deshalb darauf angewiesen bin, dass die Übersetzungen gut sind.

Szymborska hat einige Gedichte veröffentlich, in denen es um das Dichten selbst geht. In „Manche mögen Poesie“ fragt sie, „was aber ist Poesie“, in „Lampenfieber“ schließt sie aus der gängigen Formulierung „die Schriftsteller und die Dichter“, dass Dichter also keine Schriftsteller seien, „sondern?“ und in „Einfall“ hat sie zwar eine Idee, aber „schließlich gibt es andere Dichter“.

Dennoch hat sie geschrieben, hat sie gedichtet. Viel gedichtet. Ich will meine Schreibversuche nicht mit ihren Texten vergleichen. Aber gerne würde ich es wagen, mich hinzustellen und laut heraus zu posaunen, was Szymborska in „Möglichkeiten“ schreibt:

„Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben, lieber
als die Lächerlichkeit, keine zu schreiben.“

Sonntags-Gedicht: Alltag in Konstanz

Jeden Morgen bei der Fahrt zur Arbeit
jeden Abend bei der Fahrt von der Arbeit
ein automatischer Blick
nach rechts bzw. links
vom Gipfel der Brücke über den See

– ein Glück, dass ich nicht mit dem Auto unterwegs bin –

Ob die Alpen zu sehen
wie die Alpen zu sehen
welche Farben oder nur Grau

Der eine Blick entscheidet
über den Tag
der andere Blick entscheidet
auch

 

Dieser Text ist angeregt von dem wahrlich goldenen Oktober in der letzten Woche und von Lucias Heimatgedanken.

Dichter dichten – ab

Bei Uschtrin habe ich gerade etwas entdeckt, was ganz nach meinem Geschmack ist: „Der international führende Hersteller von Dichtungssystemen für Türen und Tore“ nimmt sein Programm „Wir sind Dichter“ ernst und hat einen Lyrikwettbewerb ausgeschrieben. Athmer heißt die Firma, die zumindest mir Dichterin ganz unbekannt war und die den ersten Preis mit 1000 Euro dotiert. Da werde ich gleich mal sehen, was ich „hinter der Tür“ – so das Thema – finde und losdichten statt abdichten. Auch handwerkliches in lyrischer Form ist erlaubt, Hauptsache die Dichtung stimmt.

Gedichte, Lyrik, Poesie

Was ist ein Gedicht? Ist es dasselbe wie Lyrik? Sind Gedichte poetisch?
Ich kann es nicht klar definieren, doch mache ich bei meinen eigenen Texten feine Unterschiede – nicht lachen, Ihr, die Ihr mich an der Stelle bereits kennt.

Im Rahmen von Kursen in Kreativen Schreiben sage ich, was ich von irgendjemand geklaut habe, ohne noch zu wissen von wem: Ein Gedicht ist ein Text, bei dem die Zeilen nicht vollgeschrieben worden sind. Das dient dazu, die Scheu vor dem Dichten zu nehmen, auch wenn ich weiß, so einfach funktioniert es nicht. Obwohl: Zeilenumbrüche sind schon ein sehr wichtiges Merkmal von Gedichten. Bei meinen eigenen Gedichten nehme ich mir für diese Frage sehr viel Zeit: Die Zeilenumbrüche sollten rhythmisch stimmen, mit einer Sprechpause einhergehen, dazu soll das Gedicht „schön“ und „richtig“ aussehen und manchmal kann man es sogar schaffen, durch geschickte Umbrüche Doppeldeutigkeiten entstehen zu lassen.

Trotz der Genauigkeit an der Stelle, ist „Gedicht“ für mich der profanere Ausdruck, die „höhere“ Form nenne ich „Lyrik“. Lyrik ist in der Regel ungereimt, immer ernst, vielleicht sogar tiefsinnig. Und poetisch, wobei ich Poesie am allerwenigsten greifen kann. Gedichte schreiben bekomme ich hin, im Zweifel veröffentliche ich sie unter „Spielerisches“, wenn mir selbst der Begriff Gedicht zu groß erscheint. Zur Lyrikerin würde ich gerne werden.

Aber vielleicht … Was ist ein Gedicht? Was ist Lyrik? Und ist es vielleicht doch ein und dasselbe? Meine Erkundungen gehen weiter.

Sonntags-Gedicht: Selbstanamnese einer Lyrikerin

Agoraphobie
Borreliose
Cholera

Depression, Demenz, Dekubitus
Erregungsstörungen
Fibromatose
Gelbsucht
Hysterie

Irritierbarkeit
Ja-Sage-Tendenz
Karies

Lippenherpes
Masern und Mumps
Nierenbeckenentzündung
Ohrenweh

Prosopagnosie
Querulanz
Rastlosigkeit
Sakrokoxalgie

Tollwut
Urteilsvermögen, eingeschränkt
Verdauungsinsuffizienz
Wassereinlagerungen
X-Beine
Y-Wort-Findungs- und
Zwangsstörung.

(Dieses Gedicht von letzter Woche hier, weils grad irgendwie so gut zum Beitrag von gestern passt.)

Schreibtypen – mal anders gedacht

Es gibt verschiedene Schreibtypen, das ist mittlerweile Allgemeingut unter den SchreibdidaktikerInnen. Exzessive Planer und Drauflosschreiber sind die beiden Extremvarianten einer Einteilung in verschieden viele solcher Typen, Näheres habe ich hier schon einmal erläutert.

Nun fiel mir aber noch ein anderer Unterschied zwischen Schreibenden auf, der nicht das Vorgehen betrifft, sondern eher den Ausgangspunkt: All die Dichter und Lyrikerinnen, die ich letzte Woche in ihrem Schaffen und mit ihren Texten kennengelernt habe, scheinen sich in zwei Gruppen einteilen zu lassen: diejenigen, deren Schreiben irgendwie aus ihrem Leben kommt, und die anderen, die sich aus der Beschäftigung mit Literatur heraus dem Selberschreiben zuwenden. Mir fiel das deshalb auf, weil für mich die Werke großer Literaten eher einschüchternd wirken, so dass ich dann gar nicht mehr zu schreiben wage. Erst im zweiten Schritt, nachdem ich schon eine Reihe von Gedichten verfasst hatte, habe ich damit begonnen, mich auch mit der schon bestehenden Lyrik zu beschäftigen.

Andere machen es anders, sie sagen: Ich habe immer schon sehr viel gelesen. Die Sprache von X, die Gedichte von Y haben mich so fasziniert, dass ich selbst das Dichten probieren wollte. Spannend, dass es so auch funktionieren kann. Ich nämlich tue mir schon schwer zu schreiben, wenn ich als Anregung ein Gedicht vorgelegt bekomme, weil ich dieses Gedicht als Vorbild wahrnehme, dem ich sowieso nicht nacheifern kann. Doch offensichtlich gibt es LyrikerInnen, die auch durch das Lesen der Werke anderer zu ihrem eigenen Stil und Inhalt finden.

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich finde ich es wichtig, die Tradition zu kennen, in der man dichtet, und seinen eigenen lyrischen Horizont durch das Lesen vieler unterschiedlicher DichterInnen zu erweitern. Ebenso wenig sage ich, meine Gedichte und die von anderen, die denselben Ausgangspunkt genommen haben wie ich, sind biografisch – zumindest nicht biografischer als alle Gedichte, denn Lyrik hat wohl immer was mit dem eigenen Erleben zu tun. Wahrscheinlich nähern sich die beiden Wege im Laufe der Zeit einander an. Doch für das Unterrichten scheint es mir hilfreich zu wissen, dass unterschiedliche Herangehensweisen zum eigenen Gedicht (vielleicht auch zu eigenen Geschichten?) führen.