Schreibt!-Raum 5: Gedicht zum Gedicht

Die Gedichte in mir unbekannten Sprachen, sogar mit für mich unlesbaren Schriftzeichen, die bei lyrikline zu finden sind, sollen als Schreibanregung dienen, um eigene Gedichte oder Prosatexte zu schreiben. Ich mache es so:

Ich klicke auf die Startseite von lyrikline.org und wähle aus der Liste der neusten Stimmen eine aus, die mich spontan anspricht. Heute ist dies Branko Cvetkoski, der ganz oben steht und auf mazedonisch schreibt. Ich sehe kyrillische Schriftzeichen und wähle das zweite Gedicht aus: ГЛАСНИК – es sieht schön aus, finde ich, und ich habe keine Ahnung, wie es sich anhört oder was es bedeutet.

Nun kann ich mir mehrmals hintereinander das Gedicht anhören, ohne dass ich die deutsche Übersetzung anschaue. Ich schließe die Augen und lasse Bilder entstehen, Bilder, die über ein Cluster oder eine Kritzelzeichung oder einfach so zu einem Text werden.

Bei meinem ausgewählten Gedicht ГЛАСНИК sehe ich eine weite Steppenlandschaft vor mir, einen Mann mit einem Mantel, einsam, aber nicht verbittert, vielleicht reitet er … Der Text, der zu diesem Klang passt, ist kein Gedicht mit Strophen oder kurzen Versen. Es ist ein lyrischer Prosatext oder ein Gedicht, das durchläuft, wo Wort auf Wort folgt, nur einzelne Akzente werden durch Satzzeichen gesetzt.

Jeder andere hört wahrscheinlich ein ganz anderes Gedicht als ich. Spannend stelle ich mir vor, zusammen mit anderen zum gleichen fremden Gedicht zu schreiben und zu vergleichen, wohin es die einzelnen Personen getragen hat. Oder das Schreiben kann beendet werden, indem dann doch noch die deutsche Übersetzung gelesen wird.