Überarbeiten – vom Groben zum Feinen
Im letzten Schreibtipp habe ich über Schreibtypen geschrieben, die sich auch darin unterscheiden können, wie sie an die Textüberarbeitung herangehen. Grundsätzlich gilt weiter, dass Schreiben eine individuelle Angelegenheit ist, bei der jeder den für ihn richtigen, funktionierenden Weg finden muss. Dennoch gibt es für das Überarbeiten einige Hinweise, die für alle hilfreich sind. Dazu sieben Kurztipps:
1. Gönnen Sie sich und Ihrem Text mindestens eine Überarbeitungsrunde:
Auch wenn uns das im Deutschunterricht manchmal so suggeriert wurde, kein guter Text entsteht aufs erste Mal – die amerikanische Schriftstellerin und Schreiblehrerin Anne Lamott hat dafür das Schlagwort vom shitty first draft geprägt. Wenn wir uns von vorne herein mit dem Wissen ans Schreiben machen, dass wir einen Rohtext schreiben, den wir später überarbeiten werden, schreiben wir schneller, flüssiger und lieber. Und geben uns die Chance auf wirklich gute Texte.
2. Schaffen Sie Distanz zu Ihrem Text, bevor Sie sich ans Überarbeiten machen:
Ist ein Rohtext geschrieben, wurde viel geleistet. Sie haben sich eine Pause verdient. Außerdem ist jeder Autor direkt nach dem Schreiben erst einmal betriebsblind und vielleicht auch noch nicht bereit, von nur einem einzigen der mühsam errungenen Worte zu lassen. Deshalb lassen Sie zwischen Rohtexten und Überarbeiten etwas Zeit verstreichen – wie lange hängt von der Textlänge und dem Abgabezeitpunkt ab.
Distanz zu Ihrem Text gewinnen Sie außerdem, wenn Sie den Arbeitsort wechseln oder das Layout verändern. Je fremder Ihnen Ihr eigener Text erscheint, desto besser können Sie ihn überarbeiten.
3. Loben Sie sich zuerst für alles Gelungene:
Der Kritiker in uns ist stark, manchmal schafft er es sogar, dass wir gar nichts aufs Papier bringen. Schon allein deshalb dürfen Sie stolz sein auf Ihren Rohtext. Da Rohtexte ein bisschen wie rohe Eier sind – oder wie ein frisch geschlüpftes Baby – sollten Sie sorgsam mit sich und Ihrem Text umgehen. Machen Sie sich zuerst auf die Suche nach den Juwelen, markieren Sie alles, was in Ihrem Text gelungen ist, was Ihnen gefällt. Sichern Sie so, dass Sie in Ihrer Überarbeitungswut nicht aus Versehen gute Stellen ändern. Und wenn eine Formulierung zwar gut ist, aber nicht in diesen Text passt, kopieren Sie sie in eine „Fundstücke“-Datei.
4. Holen Sie sich Feedback von anderen:
Denken Sie nicht, Sie müssen alles alleine machen. Egal wie viel Distanz Sie zu Ihrem Text schaffen, richtig fremd ist Ihnen Ihr Text nie. Die schwierige Aufgabe, die Perspektive des Lesers einzunehmen und den Text mit dessen Augen zu lesen, können Sie sich beträchtlich vereinfachen, wenn Sie einen echten Leser um Rückmeldung bitten. Am besten geht dies, wenn Sie mit ein oder zwei anderen Personen eine Feedback-Gruppe bilden, in der Sie sich gegenseitig unterstützen. Überlegen Sie gut, ob Ihr Lebenspartner oder Ihr Chef dafür geeignet ist.
Sagen Sie klar, zu welchen Fragen Sie sich Rückmeldung wünschen. Und bitten Sie um beschreibendes Feedback: Worum geht es mir? Was hast Du verstanden? Wie erging es Dir beim Lesen? An welchen Stellen packt Dich der Text, wo steigst Du aus? Warum? – Antworten auf solche Fragen helfen Ihnen viel mehr als eine Bewertung.
5. Drucken Sie Ihren Text aus und markieren Sie, was Ihnen auffällt:
Ich will es oft selbst nicht einsehen und tappe in die Falle: Wirklich überarbeiten geht nur auf dem Papier, nicht auf dem Bildschirm. Verhindern Sie, dass Sie die schlimmsten Stellen in Ihrem Text erst dann bemerken, wenn es zu spät ist. Deshalb drucken Sie ihn aus, großzügig, also mit viel Platz für Anmerkungen. Wer Papier sparen möchte, kann Rückseiten benutzen.
Ist der Text ausgedruckt, markieren Sie zunächst nur, was Ihnen auffällt, ohne es gleich zu verändern. Nicht an allen Stellen ist der Erstentwurf schlecht. Notieren Sie wirklich alles, was Ihnen durch den Kopf geht, auf dem Ausdruck – ich verspreche Ihnen, dass Sie es sonst vergessen. Verwenden Sie zum Markieren am besten keinen roten Stift, sondern einen grünen oder lilanen oder was Ihnen passend erscheint und nicht nach Schule aussieht. Und arbeiten Sie beim Überarbeiten immer von vorne nach hinten, in der gleichen Richtung wie Ihre späteren Leser.
6. Lesen Sie sich Ihren Text laut vor oder lassen Sie ihn sich vorlesen:
Beim lauten Lesen wechseln Sie den Kanal und Sie hören, wie Ihr Text klingt. Dadurch bekommen Sie viele und andere Hinweise für Ihre Überarbeitung. Ich habe dies schon einmal in einem älteren Tipp erklärt, den Sie hier finden.
7. Arbeiten Sie vom Groben zum Feinen:
Kein Mensch kann auf alle Ebenen eines Textes gleichzeitig achten. Gewöhnen Sie sich deshalb an, eine Ebene nach der anderen ins Visier zu nehmen. Auch wenn Sie um Feedback bitten, benennen Sie klar, wozu Sie dies wollen. Arbeiten Sie dabei vom Groben zum Feinen: Zuerst müssen Inhalt und Grobstruktur des Textes stimmen, dann gehts zur Feinstruktur (Absätze) und zu Stil und Sprache. Wenn alle Formulierungen griffig und verständlich sind, können Fehler gefunden werden: Grammatik, Zeichensetzung, Rechtschreibung. Und ganz am Ende steht ein einheitliches, übersichtliches Layout, werden möglicherweise Silben getrennt, Verzeichnisse kontrolliert und ähnliches.
Arbeiten Sie ein, was Sie verändern wollen, wenn Sie die Markierungen für eine Ebene abgeschlossen haben. Überschreiben Sie dabei aber nicht einfach Ihr vorhandenes Dokument, sondern speichern Sie es als neue Version – manchmal stellt sich am Ende heraus, dass der ursprüngliche Text an der einen oder anderen Stelle doch besser war. Bevor Sie sich auf Fehlersuche begeben, drucken Sie die aktuelle Textversion noch einmal neu aus.
Nicht jeder Text benötigt gleich viel Überarbeitung, nicht jeder Text ist gleich wichtig. Und verbessern kann man Texte immer. Deshalb entscheiden Sie rechtzeitig, wann es genug ist, auch wenn der Text – natürlich – noch nicht perfekt ist. Sie wollen sich schließlich beim nächsten Text noch steigern können.