Das Schreiben der Anderen
Vom Potential des (kreativen) Schreibens bin ich überzeugt: Eine große Kraft liegt darin, vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten. Beeindruckende, starke und stärkende Texte entstehen. Wo sonst kann man sich so unkompliziert und einfach ausdrücken, was sonst ist quasi überall und mit minimalem Einsatz möglich? Schreiben ist billig, ein Stückchen Papier und ein Bleistiftstummel finden sich überall. Schreiben verlangt kaum Vorkenntnisse, wer Buchstaben malen und Laute differenzieren kann, kann Wörter auf ein Papier bringen, also kreativ schreiben, wenn auch nicht alle von SchulanfängerInnen so geschriebenen Texte von anderen Personen auch vollständig gelesen werden können. Somit ist Schreiben für mich die demokratischste unter den Künsten.
Seit längerem beschäftigt mich die Idee, gerade mit den Menschen kreativ zu schreiben, an die man dabei nicht als erstes denkt. Ich möchte diejenigen die Ausdruckskraft von eigenen Texten erleben lassen, die von sich aus nicht sagen, dass sie schreiben wollen. Also überlege ich mir, wie Schreibwerkstätten für Deutschlernende, für Grundschulkinder, Menschen mit geistiger Behinderung oder funktionalem Analphabetismus ablaufen können, wie man mit Menschen mit Demenz, jugendlichen MigrantInnen oder Menschen, die sich so sehr sozial engagieren, dass für sie selbst nur wenig Raum bleibt, kreativ und/oder biografisch schreiben kann. Ich bin an der Stelle missionarisch veranlagt: Es muss nicht jedeR schreiben, aber ich möchte zeigen, wie toll es ist, und hoffe, damit zu überzeugen.
Drei Räume, wo Menschen schreiben, denen es kaum zugetraut wird:
Der Ohrenkuss ist ein Magazin, das Menschen mit Down-Syndrom machen. Es erscheint seit 1998 zweimal im Jahr, jeweils zu einem bestimmten Thema. Alle Beiträge werden so abgedruckt, wie sie von den AutorInnen eingereicht werden. Die Ausgabe No 19 vom Oktober 2007 handelte vom Schreiben. Michaela König schrieb hier: „Das tat mir richtig gut das ich alles niederschreiben konnte, ich fühlte mich freier. Ich fühlte mich einfach richtig gut, als ich mit dem schreiben anfing.“ Dazu sieht der Ohrenkuss im A4-Querformat und mit sprechenden Fotos richtig gut aus.
Ein ähnliches Anliegen verfolgt der Verein Die Wortfinder. Die Selbstbeschreibung lautet: „Kreatives Schreiben & Literatur von besonderen Menschen und Menschen in besonderen Lebenslagen“, es geht darum, kreatives Schreiben bei Menschen mit „geistigen und/oder psychischen Beeinträchtigungen“ auf verschiedene Weise zu fördern. Letztes Jahr gab es einen ersten Literaturwettbewerb des Vereins zum Thema Die Zeit und der Kalender, der dabei entstandene Wochenkalender mit den Siegertexten ist mittlerweile vergriffen.
Das Pendant in Österreich dazu ist der Ohrenschmaus. Dieser Literaturpreis „soll helfen, neue Schriftsteller-Talente zu entdecken, dort wo man sie am Wenigsten erwartet“, nämlich unter Menschen mit Lernschwierigkeiten. Die Siegertexte, z.B. Ascheimer von Reinhard Schmidt in der Kategorie Prosa, zeigen, dass die Latte nicht zu hoch gelegt ist.
Es ist also nicht nur möglich, das Schreiben „der Anderen“, es lohnt sich, für die Lesenden und die Schreibenden, es entstehen spannende, unterhaltende, anregende, lustige, …, lesenswerte Texte. Ich bleibe dran.