Verspiegelt

Nun, wie erging es Ihnen letzte Woche?

Ja, wie soll ich sagen, es geht so, also, jetzt, wo es abends wieder so früh dunkel wird …

Ist Dunkelheit ein Problem?

Nein, nicht direkt, es ist nur so, meine Frau

Ihre Frau? Macht Sie Druck?

Nein. Es gibt immer noch keinen Spiegel in unserem Haus und ich helfe ihr morgens die Haare zu richten. So war ja die Absprache.

Was ist dann das Problem mit Ihrer Frau?

Nun, sie hat mich Einkaufen geschickt.

Verstehe. Ins Bekleidungsgeschäft?

Nein, nein. Sie bringt mir doch alles, was ich brauche: Hemden, Schuhe, Unterwäsche. Sie weiß ja, dass ich da nicht rein kann. Und ich muss mich sowieso darauf verlassen, dass das, was sie sagt, gut an mir aussieht, weil ich kanns ja nicht sehen und …

Wo hat sie Sie denn hingeschickt?

Nicht direkt geschickt, gebeten. Kartoffeln zu holen. Die waren aus und sie hatte es vergessen, welche zu kaufen.

Kartoffeln? Was ist das Problem mit Kartoffeln?

Kartoffeln sind kein Problem, die gehen gut. Sie sind knollig und dreckig, besonders die Bio.

Aber?

Es war halt schon so spät, schon nach 19:00 Uhr. Da hat nur noch der Edeka auf.

Bei Edeka gibts Spiegel?

Nein, zumindest nicht im Kundenbereich … Ich fange schon wieder an zu schwitzen.

Gut, dass Sie es spüren. Wo merken Sie es noch?

Ja, ich, mein Herz klopft schneller und die Hände sind feucht. Atmet laut. Und unter den Achseln – ich spüre, da sind Schweißflecken, die muss ich gar nicht sehen. Und jetzt fängt auch noch mein rechtes Auge an zu zucken.

Erinnern Sie sich an das Bild?

O.k., das Bild. Ich sehe es vor mir. Eine weiße Fläche, eine unebene weiße Fläche, eine Wand – atmet wieder ruhiger – es geht wieder.

Prima. Sie haben schon sehr gut gelernt, sich zu beruhigen. Da können wir bald das Desensibilisierungsprogramm starten. Kommen wir zurück zu Edeka.

Desensibilisierung? Ich geh abends nicht zu Edeka. Da sind lauter Schaufenster, überall, schon auf dem Weg!

Die weiße Wand, sehen Sie die weiße Wand? Gut. Atmen Sie noch einmal tief aus – und wieder aus. Die weiße Wand. – Nun treten Sie gedanklich aus Ihrer Wohnung. Es ist der 14. November, 19:10. Ihre Frau hat Sie gebeten, Kartoffeln zu kaufen. Sie mögen Kartoffeln, es ist Ihr Abendessen. Sie haben Hunger.

Der Sikomat stand schon bereit.

Der Sikomat steht bereit. Ihre Frau wartet auf Sie. Sie braucht Ihre Hilfe.

Ich gehe aus dem Haus. Ich grüße den Nachbarn. Ich gehe nach rechts, links ist eine Sackgasse. Ich ignoriere die parkenden Autos, schaue rechts unten die Häuserwand an. Alles geht gut. Ich biege um die Ecke. Noch eine Ecke.

Sehr gut, Herr Müller, sehr gut. Sie gehen um die zweite Ecke. Wo sind Sie jetzt?

Ich weiß nicht, ich muss mich orientieren. Ich, ich hebe den Blick, ich, da

Herr Müller? Herr Müller! Atmen! Ausatmen. Die Wand, sehen Sie die weiße Wand und ausatmen.

Ich … ich muss aufs Klo.

Ja, bitte, gehen Sie. Soll ich Sie begleiten?

Aufs Klo. Nicht hier. Niemals … ich … Bis nächste Woche.

 

(Ist frei erfunden, passt gerade aber trotzdem irgendwie hierher. Und ja, ich weiß: Ich hab mich rausgemogelt. Ideen, wie’s weitergeht oder wovor Herr Müller denn nun genau Angst hat und warum, sind willkommen.)

Grauenvolle Schreiborte

Wie wird Schreiben zum Abenteuer? Darüber dachte Lucia nach und kommt an erster Stelle auf die Idee, einen unwirtlichen Ort zu wählen: „wo du dich nicht wohlfühlst und nur unter Grauen hingehst. Genau da werden existentielle Texte entstehen.“

Ich bin ja noch immer bei der Angst, existentielle Texte wollen wir doch. Deshalb: Was sind die grauenvollsten Schreiborte, die wir uns vorstellen können? Wo und bei welchem Ambiente bin ich in der Lage, die existentiellsten Texte zu schreiben? Fünf erste Ideen:

– im lieblos kargen Speisesaal im Keller eines Gästehauses, am besten wenn ich Zeitdruck habe, bis der Text fertig sein muss, und um mich herum Menschen kichernd und quatschend Sahnetorte essen, mir aber Filterkaffee nicht schmeckt

– auf einem Schiff, das durch den Nebel rauscht, zwischen einer Ausflugsgruppe schwäbischer Freundinnen und einer Grundschulklasse, die mit einer Lehrerin gesegnet ist, die die Kinder rücksichtsvoll anhält, leise zu sein

– in der mittlerweile rauchfreien Kneipe, in der wir uns zum ersten Mal geküsst haben, mit dem Stift, den er mir geschenkt hat und mit dem ich die Hochzeitseinladungen unterschrieben habe, auf rosa Papier, am Tag der Trennung

-in einer grauen, kalten Bruchbude in einer mir fremden Umgebung, zwischen Müllsäcken, Modergeruch und Tieren, die ich nicht benennen kann, wenn ich nicht weiß, ob noch andere Menschen in der Nähe sind und, wenn ja, was für welche

– in einem langen Amtsflur zwischen Horden von Gleichstellungsbeauftragten, frustrierten Alt-68ern und weißhaarigen Bürokraten, hinten auf das Zettelchen mit der Nummer 374

Es geht noch mehr …

Wovor man sich fürchten kann …

Angst schreiben war angesagt, ich habe berichtet. Hier ein ABC angsteinflößender Dinge:

Adventskalender
Bilderrahmen
Clowns
Drachen
Edelsteine
Fingerringe, besonders aus
Gold, Gartenscheren
Holunderbüsche
Intimsprays
Jeansjacken
Körbe
Lampions
Musterhausküchen
Nylonstrümpfe
Orgelpfeifen
Parkettböden
Quarkspeisen
Rettungswesten
Steine
Unterhosen, lange
Veilchen
Wassergläser
Xerox-Kopierer
Yachten nicht, das ist zu billig
Zettelkästen und Zitronen