Wer akademisches Schreiben unterrichtet, kommt an der Frage Ich oder Nicht-Ich nicht vorbei. Manche ermuntern leidenschaftlich dazu, zumindest im Rohentwurf viele Ichs zu verwenden, beispielsweise Judith Wolfsberger in ihrem Buch „Frei geschrieben.“ (Wien u.a., 2009). Andere schreiben zwar, dass es kein generelles Ich-Verbot (mehr) gibt, verweisen aber auf verschiedene Möglichkeiten, das Ich zu umgehen wie Otto Kruse im Klassiker „Keine Angst vor dem leeren Blatt“ (Frankfurt/Main, 2007).
Studentisches Schreiben funktioniert anders als wissenschaftliches Schreiben. Studierende schreiben in der Regel für ihren Dozenten, der sie benotet, nicht als Teil der wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft. Sie sind jung und gerade dabei, wissenschaftliches Arbeiten und Denken zu erlernen, zu üben und erste Erfahrungen darin zu sammeln. Klare Regeln, wie „Schreibe nicht ich, weil es um die Argumentation geht und nicht um dich“, geben Orientierung.
Andererseits verlieren viele Studierende an den Hochschulen schnell die Freude am Schreiben, weil sie sich, ihre Lebenswelt und ihre Gedanken nicht darin wiederfinden. Dozierende klagen über Texte, bei denen Zitate aneinandergereiht sind ohne kritische Beurteilung, ohne eigenständige Denkleistung – von Angst vor der eigenen Meinung ist die Rede.
Mit oder ohne Ich löst das Problem nicht. Studierende sollen und dürfen sich eigenständig mit Sachverhalten auseinandersetzen. Zum Nachdenken über und Ausloten eines Themas, zum Fragen stellen und um Antworten ringen kann es hilfreich sein, viel zu schreiben und viel Ich zu schreiben. Im nächsten Schritt geht es darum zu lernen, wissenschaftliche Texte zu formulieren, die Konventionen einzuhalten, die fachwissenschaftliche Sprache zu benutzen und passende Formulierungen auszuwählen. Das kann weder von allein noch von heute auf morgen passieren.
Eine spannende Diskussion der Ich-Frage habe ich im Blog Shitty First Drafts gefunden, der mich – ganz sujektiv – allein schon wegen des Titels anspricht und durch seine klare Argumentation überzeugt.
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